Es ist Ende September. Hamburg: +20 °C, Oslo: +10 °C, Longyearbyen: Dauerfrost. Endlich angekommen. Einmal das Packeis und die Gletscher erleben, bevor sie dahinschmelzen! Ich habe mir einen lang gehegten Herzenswunsch erfüllt und bin mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter für zwei Wochen in der Hocharktis und im Nordpolarmeer unterwegs: in Svalbarð, altnordisch für kühle Küste.
Kontraste und Widersprüche
Ich liebe Kontraste und auf Svalbard ist man von Kontrasten und Gegensätzen umzingelt. Diese Inselgruppe um Spitzbergen bestehend aus Eis und Stein ist erst seit 120 Jahren dauerhaft menschlich bewohnt, seitdem man hier Kohle abbaut. Der Klimawandel mit Temperaturanstieg, Meereis- und Gletschereisschmelze ist hier besonders stark ausgeprägt. Auch ich trage mit meiner Reise dazu bei. Ein Saatguttresor für Nutzpflanzen aus der ganzen Welt liegt tief im Permafrostboden aber 130 m über dem Meerspiegel - hoch genug für alle Fälle. Früher wurden die Wale, Robben, Polarfüchse und Eisbären erbarmungslos gejagt, heute dienen sie streng geschützt als Touristenattraktion. Es soll hier mehr Eisbären (ca. 3.500) geben als Einwohner (ca. 2.500). Aber jährlich 50.000+ Kreuzfahrttouristen. Keine Pflanze, auch nicht die Polarbirke, ist hier höher als ein paar Zentimeter, aber es gibt in Longyearbyen ein Restaurant in einem üppig grünen Wintergarten mit Sukkulenten und Kakteen. Der Tagesrhytmus ist hier Jahresrhytmus: 5 Monate lang Polartag und 5 Monate lang Polarnacht.
Re-connecting mit der Natur
Mein Besuch fiel in die Zeit der endlos langen Blauen und Goldenen Stunden - wenn denn der Himmel mal klar war leuchtete die Landschaft in den herrlichsten Pastelltönen. Das Gelände ist zu dieser Zeit schon leicht mit Neuschnee bezuckert, daraus ragen dunkle Gesteinsstrukturen oft spitzbergig, Felsen wie Gesichter im Schotterbett aus Frostsprengung. Der Schnee, die Wolken, der Eisnebel überbieten sich in ihrer Weißheit. Minimalismus pur. Das Gletschereis leuchtet blau und die Schollen knistern im Wasser. Das Packeis liegt bei 81° Nord still und dicht - kaum 1000 km von der Packeisgrenze bis zum Pol. Kein Eisbär. Nur Spuren im Schnee. Wir sehen von fern in den zwei Wochen gerade zweimal ein anderes Schiff auf dieser letzten Fahrt der Saison. Während des Sturms hängen wir sea-sick in den Kojen oder fahren Achterbahn auf der Brücke. Uns begleiten Eismöwen und ich lese Christiane Ritter. Die Natur ist hier unmittelbar.
Inspiration
Die Eindrücke versuche ich mit Hilfe der Fotografie zu verarbeiten. Hinterlassenschaften der Kohleförderung treffen auf die reine Natur. Schwarz auf Weiß. Inspirations- und Motivationsquelle für meine künstlerische Fotografie als Prozess in der Natur. In fruchtbarer Atmosphäre an Bord wird katalanisch-schwedisch-finnisch-norwegisch-tschechisch-britisch-deutsch gefachsimpelt. Gut, dass wir hier oben kein Internet und Social Media Empfang haben.
Auch jetzt noch, Wochen und Monate nach der Reise, reifen bei mir weitere Ideen auf Basis der Erlebnisse, Diskussionen, fotografischen Ergebnisse und Recherchen. Es wird künstlerischen Output geben!
Nachgedanken
Ich habe ambivalente Gefühle. Ich möchte die Faszination für die Arktis teilen und gleichzeitig auf die Zerbrechlichkeit und Gefährdung aufmerksam machen. Animieren meine Berichte, Veröffentlichungen, Fotos dazu leichtfertig "einfach mal so" hochzufahren? Ich habe mich über ein Jahr lang intensiv vorbereitet und bereite diese Reise immer noch nach, um für mich möglichst nachhaltig alles daraus zu ziehen und auch respektvoll wieder etwas an die fragile Natur der Arktis zurückzugeben.
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